Friday, May 27, 2011

Shameless

Nach der Tornado-Katastrophe im April rollte eine Welle der Hilfsbereitschaft über Nord-Alabama. Jeder wollte etwas beitragen und helfen, und so waren dann schließlich tausende Menschen mit Kleider-, Essen- und sonstigen Sachspenden im Auto unterwegs.
Nicht dass das irgendwie organisiert gewesen wäre - meine Frau hatte große Schwierigkeiten unsere Spenden überhaupt los zu werden. Erst in der dritten oder vierten Kirche war man bereit, ihr die Sachen ab zu nehmen. Aber, so wurde sie gleich darauf hin gewiesen, da man keine Kapazitäten habe um die Sachen auch zu sortieren und an die Bedürftigen zu verteilen, würde man sie eben im Moment nur sammeln und nichts weiter damit machen. Daraufhin ist sie eben gleich da geblieben und hat mit geholfen - für zwei Wochen dann jeden Tag.
Es war eine Erfahrung, die alles beinhaltete - Ernüchterung, Ärger, Empörung, Hilflosigkeit, Frustration und ja, auch ein wenig Freude.

Die Organisation der Hilfsmaßnahmen wurde überwiegend durch einige (aber längst nicht alle) örtlichen Kirchen durchgeführt. Die haben einfach die Mittel, Möglichkeiten, die Manpower und Räumlichkeiten um so etwas zu stemmen.
In den örtlichen Zeitungen war ein Aufruf abgedruckt, dass jeder der nicht direkt mit einer der helfenden Kirchen verbunden war, sich täglich in Huntsville bei einer zentralen Stelle melden sollte, die dann die Leute je nach Bedarf verteilen würde. So weit die Theorie. In der Praxis hieß das Chaos, Leute die im  Norden wohnten und nach Süden geschickt wurden, stundenlanges herumstehen bis man abgefertigt wurde, Kirchen die keine Hilfe angefordert hatten und die dann mit Helfenden überschwemmt wurden und so weiter.
Meine Frau, als gute Deutsche mit dem Prinzip der zentralen Organisation und Zuständigkeit vertraut, marschierte also am zweiten Tag ihrer Hilfsmission auch dorthin. Nachdem sie aber mit bekommen hatte wie das dort lief, ist sie dann lieber schnurstracks wieder zu der Kirche gefahren, in der sie schon am Vortag mit geholfen hatte.

Good Shepherd United Methodist Church ist eine dieser typischen Kirchen, von denen es hier zehn pro  Quadratkilometer gibt. Die Methodisten waren bei der ganzen Hilfsaktion an vorderster Front, gefolgt von den Baptisten. Das liegt zum einen daran, dass diese beiden Konfessionen hier im Süden sehr stark vertreten sind, zum anderen aber sicherlich auch daran, dass Methodisten ganz allgemein sehr praktische, zupackende Menschen sind. Eigentlich ist meine Frau ja Mitglied der lutheranischen Kirche hier am Ort, aber dort war man sehr zurückhaltend mit Soforthilfe und  musste die Situation erst einmal gründlich überdenken.

Wie also sah der typische Tag in Good Shepherd aus?
Hilfsgüter sortieren, vor allen Dingen Kleidung, Kleidung und noch mehr Kleidung. Nach ein paar Tagen war die große Versammlungshalle, die als Lager umfunktioniert worden war, brechend voll mit riesigen Kleiderhaufen. Es kam weitaus mehr herein als heraus ging, denn die Menschen, denen durch die Tornados das Dach über dem Kopf weggeblasen worden war, brauchten vor allem Nahrungsmittel und Dinge des täglichen Gebrauchs. Kleidung wurde eher selten nachgefragt.
In den ersten paar Tagen, als die Organisation bei Good Shepherd noch nicht rund lief, wurde dort sehr viel Lehrgeld bezahlt.
Eine der Lehren, die nach und nach umgesetzt wurden war, dass sämtliche Spenden, so weit es ging, aus ihren Originalverpackungen heraus genommen wurden und mit dickem Marker 'Good Shepherd' darauf geschrieben wurde. Damit wurde verhindert, dass irgendwelche Schlaumeier zum Beispiel eine Packung Windeln bei Good Shepherd abgriffen, um sie dann im nächsten Supermarkt "zurück zu geben". Die meisten Geschäfte hier verlangen nämlich beim Umtausch von waren im Geiste der Kundenfreundlichkeit einen Kassenzettel nur dann, wenn man den Betrag auf die Kreditkarte zurück gebucht haben will. Bei Barzahlung geht das auch ohne Bon.
Schäbiges Verhalten? Absolut. Aber im allgemeinen Chaos nach den Tornados ein sehr häufiges Vorkommnis, leider. Klar ist das Diebstahl - aber die Polizei hat im Moment ganz andere Prioritäten und so ist das für die Schweinepriester ein recht geringes Risiko. Und ein lukratives Geschäft noch dazu. Pro Tag zehn Windelboxen bei zehn verschiedenen Kirchen abgegriffen und, schwupps, hat man dreihundert Dollares in der Tasche.

Und dann sind da die Leute, die selbst im Elend - nicht ihrem eigenen, dem der anderen - ein Anspruchsdenken an den Tag legen,, dass es einem die Sprache verschlägt.
Als sich die Organisation nach einer halben Woche oder so einigermaßen eingependelt hatte und in Good Shepherd so eine Art kleiner Supermarkt mit den gespendeten Waren aufgebaut worden war, konnte ein anderes recht schäbiges Verhalten beobachtet werden.  
Dämchen (meist mit etwas dunklerer Hautfarbe), goldkettenbehängt, Handy ans Ohr getackert, fahren im dreissigtausend Dollares Mittelklassewagen vor und gehen handtaschenschwenkend auf Shopping Tour. Für lau natürlich, denn die Spenden werden ja nicht verkauft, sondern an Hilfsbedürftige verteilt. Und auch an diejenigen, die die Chuzpe haben sich selbst als hilfsberechtigt einzustufen, nach dem Denkmuster "ich bin zwar kein Tornado-Opfer aber als unterdrückte Minderheit hier auch arm dran und habe daher das Recht mich hier ungeniert zu bedienen ...".
Das gipfelt dann darin, dass die - überarbeiteten, freiwilligen - Helfer hinter den Tischen mit den Hilfsgütern angemacht werden, weil sie nicht die Cerealiensorte vorrätig haben, die man bevorzugt.

Grundsaetzlich gibt es keine  Möglichkeit den Missbrauch ganz abzustellen, nur der hilflose Versuch ihn auf ein erträgliches Maß einzudämmen.
Und so wurden dann nach einer Weile, mit zusätzlichem Aufwand für die Helfer, schließlich jeden Morgen Hilfspakete zusammengestellt, mit allem notwendigen darin für den Tag - Essen und Trinken, Toiletten- und Hygieneartikel, und so weiter. Das wurde dann, statt der Supermarktselbstbedienung, an die Bedürftigen verteilt - take it or leave it. Wer wirklich Not litt, der nahm es gerne und mittlerweile kannte man seine Pappenheimer ja auch. Trotzdem gab es einige unfreundliche Auseinandersetzungen mit enttäuschten "Kunden" - starke Nerven waren sehr gefragt in diesem "Job".

Nach zwei, drei Wochen wurden die Hilfestationen dann langsam eine nach der anderen wieder abgebaut. Die erste Not war überstanden, die meisten Bedürftigen hatten bei Familie oder Freunden Unterschlupf gefunden, die Versicherungen zahlten, die Arbeitsstellen hatten wieder geöffnet, Benzin, Strom und Wasser war wieder vorhanden, die Trümmer waren von den Straßen geräumt und das Leben normalisierte sich langsam wieder.
Was blieb waren die ungeheuren Berge von Kleidung, die sich in den Kirchen angesammelt hatten. Die wurden dann generell en masse an Stoffverwertungsfirmen verkauft und das Geld den allgemeinen Hilfsfonds der Kirchen zugeführt.
Heute, einen Monat nach den Tornados, sind die Wunden noch sichtbar und der Schrecken noch allgegenwärtig. Aber durch die selbstlose Hilfe von abertausenden Freiwilligen hat es keine Toten durch den zeitweiligen flächendeckenden Zusammenbruch der zivilisatorischen Infrastruktur gegeben. Hunger, Durst, Erschöpfung, Kälte oder Wind und Wetter wurden durch die Hilfe dieser Menschen aus der Gleichung heraus genommen. Viele haben alles verloren, doch wir alle haben auch etwas gewonnen - für ein paar Wochen das Gefühl, alle in einem Boot zu sitzen und in einer Notsituation zusammen zu stehen. Für meine Frau, so frustrierend und ernüchternd ihr Hilfseinsatz bei Good Shepherd auch teilweise war, überwiegte dann am Ende doch das Gefühl zu etwas sinnvollem und notwendigem beigetragen zu haben.

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